S.a.B.r.I.n.A.


 

Gerne hätte ich der Frau vorn in der ersten Reihe die Hand auf die Schulter gelegt und ihr ein paar freundliche Worte zugeflüstert, aber eigentlich kannte ich sie ja kaum und so wäre sie über meine vertrauliche Geste wohl sehr erstaunt gewesen. Vermutlich hätte sie sogar befremdet reagiert, denn genaugenommen kannte sie mich überhaupt nicht. Also unterließ ich es lieber. War auch besser so. Wäre ohnehin zu gewagt gewesen. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst. Irgendwann würde es mich noch erwischen.

 

Nein, die junge Frau und ich, wir waren uns nie begegnet. Gekannt hingegen hatte ich ihren Mann, wenn auch nicht persönlich. Ein faszinierender Mensch. Groß und mit Schul-tern, die die richtige Breite hatten, um die grauseidenen Boss-Anzüge aufs Eleganteste auszufüllen. Maßgeschneiderte Hemden, deren Ärmel auf den halben Zentimeter genau an der Stelle des Handgelenks endeten, die es einem Gesprächs-partner ermöglichte, einen flüchtigen Blick auf die goldene Rolex zu erhaschen. Dezenter Brilli auf dem Platinreif am rechten Ringfinger ebenso wie auf der geschmackvollen Kra-wattennadel. Handgenähte Lederschuhe, die ihre italienische Herkunft erst auf den zweiten Blick verrieten, sowie ein perfekter Schnitt des graumelierten Haares, vermutlich das Ergebnis wöchentlicher Besuche bei einem dieser Friseure, die irgendwann prominenter sind als die meisten ihrer Kunden, rundeten das Bild des erfolgreichen, seriösen Ge-schäftsmannes ab.

Ein strahlendes Lächeln, das zwei Reihen blendend weißer Jacketkronen enthüllte, sprang den Betrachter des Familien-fotos geradezu an, jenes Fotos, das ich in meinem Büro an der Pinnwand hängen hatte und das während des letzten Sommerurlaubs aufgenommen worden war. Gleichsam beschützend wie besitzanzeigend hatte der Mann darauf die rechte Hand auf die Schulter seiner Frau gelegt, die in irgendeiner Badebucht im Sand saß und das Baby auf dem Schoß hielt. Die Linke des Mannes ruhte auf dem Hinterkopf des älteren Kindes, einem etwa acht- oder neunjährigen Mädchen, das etwas ängstlich in die Kamera blickte. Die Frau auf dem Bild hatte leicht die Mundwinkel nach oben gezogen, aber das Lächeln schien ihre Augen nicht zu erreichen. Mag sein, dass dieser Eindruck hauptsächlich dadurch entstand, dass sie eine dieser überdimensionalen Sonnenbrillen trug, die jede Frau wie eine mutierte Stubenfliege aussehen lassen, dennoch war ich mir sicher zu erkennen, dass ihr Lächeln nur Maske war und nicht Ausdruck einer freudigen Empfindung. Ich täusche mich selten in solchen Dingen, wissen Sie. Ein gewisses Feeling dafür gehört einfach zu meinem Job.

 

Dieselbe Sonnenbrille trug die Frau übrigens auch jetzt, obwohl der Himmel eher trüb war. Die Luft war abgestanden und zugleich schwer und süß gewesen vom Duft Hunderter Rosen und Lilien. Die Glocken hatten geläutet und die Träger gemessener Miene links und rechts des Sarges Platz genommen. Begleitet von einer etwas altersschwach ächzenden Orgel hatte die Gemeinde gebeten „So nimm denn meine Hände“, der eine oder andere Schluchzer war bereits laut geworden, noch bevor der Chor feierlich das Ave verum intoniert hatte, und Tränen waren mit spitzenbesetzten Tüch-lein von den Wangen getupft worden. Der Graumelierte musste eine Seele von Mensch gewesen sein, wenn man dem Pastor Glauben schenken wollte, der den Lebensweg des lieben Verblichenen mit salbungsvollen Worten nachgezeichnet hatte. Wie überaus traurig und welch ein Verlust für die Menschheit, dass dieser wunderbare Mann und liebevolle Familienvater so früh hatte sterben müssen. Und dann auch noch so plötzlich und auf so tragische Weise. Ergreifend.

Das zweite Foto, das an meiner Pinnwand hing, zeigte eine etwas jüngere Kopie des Verstorbenen. Ebenfalls Typ Nadelstreifen-, Brilli- und Nobelmarken-Träger, aber alles eine Nuance zu übertrieben, als dass man ihm die gleiche Klasse wie seinem älteren Bruder hätte attestieren können.

 

Nur dem Auge eines geübten Beobachters konnten die leichten Ausbuchtungen unter den Armen der ebenfalls in dezentes Schwarz gekleideten beiden Herren auffallen, die in diesem Moment den Jüngeren für einen letzten Abschied nehmenden Blick an das Grab des Bruders geleiteten. Wirklich nett, dass sie ihm für diesen Anlass die Handschellen abgenommen hatten, aber schließlich war ja auch noch nichts endgültig erwiesen. Dass die Kugel, die den Graumelierten bei der diesjährigen Treibjagd genau ins Herz getroffen hatte, aus dem Gewehr seines eigenen Bruders stammte, war allerdings ein schwerwiegendes Indiz, zumal ausschließlich dessen Fingerabdrücke auf Kolben und Abzug zu finden gewesen waren. Dennoch leugnete der Jüngere standhaft, etwas mit dem Tod seines Bruders zu tun zu haben. Gut, das Motiv war noch unklar, aber es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis das Ermittlerteam der Staatsanwaltschaft auf den angeblich gestohlenen Laptop des Verdächtigen stoßen würde. Die Dateien darauf zu manipulieren, war eine technische Kleinigkeit gewesen, den Laptop zu „stehlen“ und ihn so in der Wohnung des Besitzers zu verstecken, dass dieser nicht darüber stolpern, die Polizei ihn aber irgendwann finden würde, das war schon eine logistische Meisterleistung, auf die ich wohl zu Recht stolz sein durfte. Eigentlich dürften die Indizien ausreichen, um diesen Mann zumindest für ein paar Jahre aus dem Verkehr zu ziehen. Dann noch ein paar Kopien der Dateien der Pressemeute zum Fraß vorgeworfen, und der üble Leumund würde ein Übriges tun.

Die Frau vorne schüttelte inzwischen die Hände einer schier endlosen Reihe Kondolierender und quetschte noch immer die eine oder andere Träne hervor. Auch hier erkannte wohl nur mein geschultes Auge, dass diese weniger Ausdruck einer tiefen Trauer als vielmehr einer ebenso tief empfundenen Erleichterung waren. Die ältere Tochter wagte schon wieder ein vorsichtiges Lächeln, das Baby war nirgends zu sehen. Ein Windstoß hob das Schultertuch an, mit dem die zierliche Frau den Nacken verhüllt hatte, und ich konnte sehen, dass die blauen Flecke mittlerweile eine grüngelbe Schattierung ange-nommen hatten. Ich vermutete, dass auch die Brandwunden auf der Brust und die Schnitte an den Oberarmen langsam verheilten.

Oh ja, er war vorsichtig gewesen. Nie ins Gesicht schlagen – und immer nur Verletzungen, die sie sich auch selbst hätte zugefügt haben können ... Und nie so stark, dass ein Arzt-besuch notwendig gewesen wäre ... Und die gleiche Maxime hatte für seinen jüngeren Bruder gegolten.

 

Woher ich das alles wusste, obwohl ich die Frau gar nicht kannte? Nun, es gehört zu meinen ehernen Grundsätzen, akribisch zu recherchieren, bevor ich einen Auftrag endgültig annehme. Nichts wäre geschäftsschädigender, als einen Unbescholtenen dauerhaft zu beseitigen, nur weil die lustige Witwe in spe dessen Geld auf den Bahamas verjubeln will.

Mag sein, dass solche Geschäfte lukrativer wären als meine Art des Geldverdienens, die paar Mäuse, die ich als Auf-wandsentschädigung zu kassieren pflege, ermöglichen mir lediglich ein Leben in bescheidenem Luxus, aber frau hat eben ihre Prinzipien. Und eine dankbare Auftraggeberin, der ich ihr Lächeln zurückgeben konnte, ist mir allemal lieber als eine, die sich nur zähneknirschend von einem Teil ihres Erbes trennt, um mich zu entlohnen.

 

Nun möchten Sie noch wissen, wie die Frau mich kontaktieren konnte? Über S.a.B.r.I.n.A. natürlich. „Situation ausweglos? Beseitige rigoros Individuen negativer Art!“ Ein Netzwerk von Frauen für Frauen. Vergessen Sie's, Sie brauchen nicht im Internet zu recherchieren. Ich betreibe keine Homepage. Mein Büro hat ja nicht mal ein Firmenschild, jedenfalls kein aussa-gekräftiges, aber irgendwer kennt immer irgendwen …

Probieren Sie es aus, wenn sie Bedarf haben.

Wie ich es angestellt habe, dass die Kugel aus dem Gewehr des Bruders ...? Sozusagen unter dessen Augen ...? Aber ich bitte Sie. Sie erwarten nicht ernsthaft, dass ich Sie in meine Arbeitsmethoden einweihe? Berufsgeheimnis, das werden Sie verstehen. Diskretion ist alles in diesem Geschäft, weshalb ich bei Veranstaltungen wie der heutigen zumeist in der letzten Reihe stehe. Das ist die einzige Macke, die ich mir leiste: Nach erledigtem Job das Ergebnis meiner Arbeit aus der Nähe zu betrachten, immer in etwas abgewandelter Gestalt, aber stets mit einem tiefen Gefühl der Befriedigung. Und – ich gebe es zu – in diesem Fall sogar mit einer gehörigen Portion Stolz, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen zu haben.